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Zum Tode von Prof. Dr. Ernst Röhrig

Unsere Zeit ist besonders ‚erinnerungstrĂ€chtig‘: Das Kriegsende mit dem Zusammenbruch des ‚3. Reiches‘, die Verabschiedung des Grundgesetzes, die Implosion von DDR und UdSSR, die Wiedervereinigung werden ins GedĂ€chtnis gerufen. Die Zeitungen sind voll von Zeitzeugenberichten und historischen RĂŒckblicken. Sie reflektieren, wie atemberaubend und umstĂŒrzend die ZeitlĂ€ufe in den vergangenen 100 Jahren waren.
Meist beeindrucken uns die ZeitlĂ€ufe am stĂ€rksten, wenn sie sich an den Schicksalen von Einzelpersonen und deren Wirken festmachen lassen. Zahlen und tiefschĂŒrfende Analysen erreichen das weniger. Um die Entwicklung der Forstwirt- und -wissenschaft, aber auch die Lebensbedingungen allgemein in diesem Zeitraum nachzuzeichnen, bietet es sich an, Prof. Röhrig als herausragenden Zeitzeugen heranzuziehen.
Er ist am 22. MÀrz verstorben. Da war er gerade in sein 100. Lebensjahr eingetreten. Viele der derzeit aktiven Kollegen werden ihn nicht mehr kennen. Deshalb seien zunÀchst die wichtigsten Stationen seines Werdegangs rekapituliert.
Ernst Hermann Friedrich Wilhelm Röhrig wurde am 21.03.1921 in Potsdam als erster Sohn des Forstrats und Oberforstmeisters Hermann Röhrig geboren. Da war gerade der 1. Weltkrieg vergangen und die unter Forstleuten noch verbreitete monarchistische Geisteshaltung musste ĂŒberwunden werden. Sein Vater reĂŒssierte im Preußischen Ministerium fĂŒr Landwirtschaft, DomĂ€nen und Forsten und stieg zum Oberlandforstmeister auf. 1934 geriet er jedoch in Widerspruch zu den zunehmend an Einfluss gewinnenden Nationalsozialisten, quittierte den Dienst und wurde in der Holzindustrie in Breslau tĂ€tig. Das brachte auch Ernst frĂŒh in Distanz zur herrschenden Staatsdoktrin. In Breslau erwarb er das Abitur und wurde anschließend zu Reichsarbeitsdienst und MilitĂ€r eingezogen. Kurz vor Kriegsende an der Westfront wurde er am linken Arm derart schwer verwundet, dass dieser amputiert werden musste. Das fĂŒhrte zu seiner Entlassung im MĂ€rz 1945. Das Kriegsende erlebte er in BĂŒckeburg, wohin seine Eltern geflĂŒchtet waren und sein Vater das FĂŒrstliche Forstamt Landwehr bis 1949 leitete. So wurde Ernst Niedersachse. Obwohl familiĂ€r vielfĂ€ltig ‚vorbelastet‘ – sein Onkel Fritz Röhrig hatte zusammen mit Hilf das Standardwerk ‚Wald und Waidwerk in Geschichte und Gegenwart‘ geschrieben – wollte Ernst zunĂ€chst Jura studieren. Das war anfangs nicht möglich. Deswegen nahm er ein Studium der Forstwissenschaft an der Forstlichen FakultĂ€t in Hann. MĂŒnden auf, wo das Forststudium frĂŒhzeitig wieder eröffnet worden war. Dieses beendete er 1949 und dann 1951 die Referendarzeit mit Staatsexamen. Im selben Jahr gelang es ihm außerdem, seine Promotion im Fach Forstzoologie ĂŒber SchĂ€dlingsbekĂ€mpfung abzuschließen, ein Thema, das er im Bereich UnkrautbekĂ€mpfung noch eine Weile weiterfĂŒhrte. Er konnte dann als wissenschaftlicher Mitarbeiter rund 10 Jahre am Institut fĂŒr Waldbau-Technik tĂ€tig sein und half dieses aufzubauen, sowie die Lehre zu gestalten. 1957 habilitierte er sich mit einer Arbeit ĂŒber die Morphologie und StandortansprĂŒche von Schwarzpappeln. 1961 wurde er Revierassistent am Forstamt Lauenau bei Hannover.
Röhrig hatte jahrelang die Verbindung nach Eberswalde, der SchwesterfakultĂ€t bei Berlin, gehalten und sich wissenschaftlich mit dortigen Kollegen ausgetauscht. Die FakultĂ€t in Hann. MĂŒnden war zudem eine Art ‚Auffangbecken‘ fĂŒr mehrere Professoren von dort geworden. Nach dem Mauerbau versuchte die DDR-FĂŒhrung, solche Kontakte mit allen Mitteln zu unterbinden. Als sich Röhrig daher mit dem Eberswalder Waldbau-Assistenten, Dr. Kilias, im Dezember 1961 anlĂ€sslich einer Familienreise nach Berlin in Ostberlin traf, wurden beide verhaftet und zu langjĂ€hrigen GefĂ€ngnisstrafen wegen Spionage von wissenschaftlichen Forschungsergebnissen und Abwerbung verurteilt. Das Eingreifen von Amnesty International, weltweite Proteste und schließlich das Programm zum HĂ€ftlingsaustausch der Bundesrepublik Deutschland befreiten ihn schließlich nach 1 œ Jahren aus entwĂŒrdigender Einzelhaft. Nur dank seiner strikten Selbstdisziplin ĂŒberstand er sie quasi unbeschadet. Er hatte somit gleichermaßen die Misshelligkeiten der Nationalsozialisten, des Krieges und der DDR-Diktatur zu verkraften gehabt, und es ist bemerkenswert, wie sehr er daraus eher Kraft als Beklommenheit schöpfte.

Nach seiner Haftentlassung wurde ihm 1964 die Leitung des Forstamts Reinhausen bei Göttingen ĂŒbertragen. Von dort aus nahm er gleichzeitig seine ForschungsaktivitĂ€ten und regelmĂ€ĂŸigen Lehrverpflichtungen an der Göttinger FakultĂ€t wahr. Außerdem betreute er eine wachsende Zahl an Diplomanden und Doktoranden. 1973 wurde er Leiter des Göttinger Waldbau-Instituts, nun in ‚Institut fĂŒr Waldbau der gemĂ€ĂŸigten Zonen‘ umbenannt. Diese Funktion behielt er bis zu seiner auf Wunsch vorzeitigen Emeritierung 1989.
Röhrig hatte somit eine solide und umfassende forstliche Ausbildung durchlaufen und entsprechende Erfahrungen in der praktischen Forstwirtschaft erworben sowie eine profunde wissenschaftliche Vertiefung genossen. Auf dieser Basis vertrat er einen praxisnahen Waldbau auf ökologischer Grundlage. In den Nachwehen des Streits um die Dauerwaldbewegung aus den 1930er Jahren setzte er sich vehement fĂŒr einen Waldbau auf naturwissenschaftlicher Grundlage ein und engagierte sich vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen um das ‚Waldsterben‘ in den 1980er Jahren fĂŒr experimentelle ÜberprĂŒfungen und sachliche Diskussionen. Eine Vielzahl von Veröffentlichungen basieren darauf.
Er war enzyklopĂ€disch belesen. Das setzte ihn in die Lage, mehrfach in Sammelreferaten den jeweiligen Wissenstand von Teilbereichen zusammenzufassen. Daran mangelt es heute oft, weil nur noch Peer-reviewte Veröffentlichungen zu zĂ€hlen scheinen. Zu diesem Aufarbeiten des jeweiligen Wissenstandes gehört auch, dass er das 1927 erstmalig veröffentlichte, epochale Waldbau-Lehrbuch von Dengler ‚Waldbau auf ökologischer Grundlage‘ völlig ĂŒberarbeitete und in der Folge zusammen mit verschiedenen Coautoren mehrfach aktualisierte. Es ist lĂ€ngst das waldbauliche Standardwerk geworden. Weiterhin war er Herausgeber und Mitautor des in Amsterdam erschienenen Werkes ‚Temperate Deciduous Forests of the World‘. Er verfasste kritische Buchbesprechungen und behielt interessiert und engagiert das forstliche Schrifttum im Blick – bis in den allerletzten Jahren sein lebhafter Geist zu verblassen begann.
Seine Lehrveranstaltungen, ob im Hörsaal oder GelĂ€nde, waren fĂŒr die Studierenden durch seine breite sowie anregende Herangehensweise und klare Diktion stets ein prĂ€gendes Erlebnis. Dabei vermittelte er ihnen ein umfassendes Bild der deutschen und europĂ€ischen WĂ€lder. Von den Studierenden verlangte er eine kritische PrĂŒfung der an sie in der Praxis herangetragenen waldbaulichen Ansichten und Verfahren. Er forderte ein Verstehen auf naturwissenschaftlicher Basis und regte stĂ€ndig zu eigenem kritischen Denken an. Die schlichte Wiederholung auch gĂ€ngiger und in der Praxis weithin anerkannter Meinungen genĂŒgte ihm nicht. Er verlangte eine eigene kritische ÜberprĂŒfung anhand der verfĂŒgbaren naturwissenschaftlichen und waldbaulichen Kenntnisse.
Zugleich hatte er eine beachtliche Schar von Diplomanden, Doktoranden und sogar fĂŒnf Habilitanden, fĂŒr die er ein anregender, ideenreicher, aber auch fordernder Betreuer war. Er verlangte ihnen viel ab, und ließ gedankliche Unsauberkeiten nicht durchgehen. FĂŒr die Beteiligten sind deshalb die intensiven GesprĂ€che mit kritischem Hinterfragen von GlaubenssĂ€tzen und wissenschaftlichen Gewissheiten unvergessen.

Röhrig wirkte aber nicht nur quasi nach innen. Er war Dekan der FakultĂ€t, lange Jahre geschĂ€ftsfĂŒhrendes Vorstandsmitglied des Göttinger UniversitĂ€tsbundes sowie des Vereins ‚Wissenschaft und Schrifttum‘. Weiterhin machte er sich um die Zusammenarbeit und den Gedankenaustausch innerhalb der deutschen Forstwirtschaft und -wissenschaft verdient. 1983 wurde er nĂ€mlich fĂŒr drei Jahre PrĂ€sident des Deutschen Verbands Forstlicher Forschungsanstalten. Der Verband war 1872 zur Koordination der Forschungsprogramme der deutschen forstlichen Forschungsanstalten gegrĂŒndet worden und entwickelte sich bis 1935 zum Forum fĂŒr viele Tagungen und gemeinsame AktivitĂ€ten der beteiligten Institutionen. 1951 wurde dieser neu belebt und sein Aufgabenfeld erweitert als SprachÂŹrohr der Forstwissenschaft nach außen und als ReprĂ€sentant in der ‚International Union of Forest Research Organisations‘ (IUFRO), dem weltweiten Pendant des deutschen Verbandes. Der Verband gliedert sich in Sektionen, z. B. ‚Ertragskunde‘, ‚Wald und Wasser‘, ‚Forstliche Biometrie und Informatik‘. 1985 regte Röhrig an, eine Sektion ‚Waldbau‘ zu etablieren. Diese leitete er selbst in den ersten Jahren und verschaffte ihr sofort Aufmerksamkeit und Zuspruch. Sie ist lĂ€ngst zu einer lebendigen und festen ‚Institution‘ geworden, die alljĂ€hrlich ca. 50 Waldbauer aus Wissenschaft und Praxis der deutschsprachigen Regionen zu VortrĂ€gen, Exkursionen und wissenschaftlichem Austausch zusammenfĂŒhrt.

Röhrigs AktivitĂ€ten beschrĂ€nkten sich jedoch keineswegs auf den deutschsprachigen Raum. Nach dem 2. Weltkrieg sah sich die bundesdeutsche Regierung zunehmend Forderungen nach Entwicklungshilfe herausgefordert. Aber sie tat sich anfangs schwer, ein eigenes Profil zu gewinnen und Projekte zu entwickeln. Das gelang nach und nach in den 1960er/1970er Jahren. Röhrig half mit, vor allem Kontakte zu auslĂ€ndischen forstlichen Instituten zu begrĂŒnden und diese auszubauen. Das betraf zunĂ€chst die forstliche FakultĂ€t in Monterrey/Mexiko. SpĂ€ter beteiligte er sich an Projekten mit Ă€hnlichen Intentionen in Griechenland, Honduras, Brasilien, Argentinien, Peru, Zaire und China.

Nicht unerwĂ€hnt bleiben dĂŒrfen die von ihm geleiteten legendĂ€ren Exkursionen mit Kollegen und Studenten, die er als Assistent initiierte. Zusammen bereisten sie unter spartanischen Bedingungen mit Zelten und Luftmatratzen ab 1958 jeweils zu dritt in VW-KĂ€fern Spanien, Korsika, Griechenland, Frankreich. Dabei war das BetreuungsverhĂ€ltnis von 1 Dozent zu 2 Studenten und einer Gesamtteilnehmerzahl von 12-15 Personen gemessen an heutigen Studienbedingungen geradezu traumhaft. Es ging bei diesen ‚forstlichen Lustreisen‘ nicht nur darum, WĂ€lder zu besichtigen, sondern viel ĂŒber Land und Leute zu erfahren und dieses mit dem Besuch kultureller Highlights zu verknĂŒpfen. Da konnte es schon einmal geschehen, dass z. B. der Forststudent Huss wĂ€hrend der Autofahrt eine Vorlesung ĂŒber Hieronymus Bosch geboten bekam. Auch wurde ihm auseinandergesetzt, warum mediterrane LĂ€nder teilweise andere InvestitionsprioritĂ€ten setzen mĂŒssen als großflĂ€chig aufzuforsten, wie er es fĂŒr vordringlich hielt. Kurz, wir erlebten einen allround gebildeten und interessierten ‚Lehrer‘ und spĂ€ter freundschaftlich verbundenen Mentor, dessen Vielseitigkeit und geistige KapazitĂ€t uns immer wieder frappierte. Außerdem fragten wir uns oftmals, wie er, vor allem in den Jahren der Institutsleitung, sein beeindruckendes Arbeitspensum bewĂ€ltigte – und das mit einem Arm, wo wir mit zweien schon an unsere Grenzen stießen. Dabei strahlte er Gelassenheit und Zugewandtheit aus. Zugleich konnte er ein ebenso anregender wie amĂŒsanter GesprĂ€chspartner sein.

Mit Röhrig hat uns also eine Persönlichkeit verlassen, die die ZeitlĂ€ufte der letzten hundert Jahre teilweise arg gebeutelt hat. Das warf ihn jedoch nicht aus der Bahn. Er war ein eindrucksvoller ‚Anreger‘ im Waldbau, fĂŒr die Forstwissenschaft insgesamt, fĂŒr seine UniversitĂ€t, hinausreichend in mehrere LĂ€nder und – natĂŒrlich – fĂŒr eine Vielzahl seiner ‚SchĂŒler‘ und Kollegen.
Als Ausnahmeerscheinung ĂŒberblickte, bereicherte und kommentierte er den großen Wissensbereich seines Faches auf der Grundlage naturwissenschaftlich begrĂŒndeter waldbaulicher und waldökologischer Kenntnisse.
Leider zögerte er, eigene Memoiren zu schreiben. Er misstraute seiner FĂ€higkeit, objektiv berichten zu können, weil ihm Briefe, Tagebuchaufzeichnungen, schriftliche Dokumente dafĂŒr fehlten. So blieb nur zweien seiner Freunde und ‚SchĂŒler‘ der Versuch, seinen Lebensweg knapp nachzuzeichnen, um damit zugleich einen Lichtstreif auf die bewegte forstliche Geschichte dieser vergangenen hundert Jahre zu werfen.

JĂŒrgen Huss und Burghard von LĂŒpke