51ÁÔÆæ

Relevanz der Geschlechterforschung

Die Geschlechterforschung wird an der UniversitĂ€t Göttingen seit ĂŒber 20 Jahren als eigenstĂ€ndiges Studienfach angeboten. Der Studiengang erfreut sich dabei seit Beginn großer Beliebtheit und weist eine solide Studierendenauslastung auf. Innerhalb Niedersachsens gibt es derzeit nur zwei Standorte, an denen Geschlechterforschung studiert werden kann. Göttingen ist dabei der einzige Standort mit einem klaren sozialwissenschaftlichen Schwerpunkt und bietet sowohl im Bachelor- als auch im Masterstudiengang ein umfassendes Studienangebot an. Dennoch verfĂŒgt der Studiengang ĂŒber keine eigene Professur und sollte auf Beschluss des PrĂ€sidiums im Jahr 2022 geschlossen werden. Nach breitem öffentlichen und studentischen Protest konnte diese Schließung durch das Land Niedersachsen verhindert werden.

Angesichts der erfolgreichen Entwicklung und der langen Tradition der Geschlechterforschung an der UniversitĂ€t Göttingen ist es bedauerlich, dass die Existenz dieses Forschungsfeldes immer wieder begrĂŒndet werden muss. „Gender Studies“ – so der Oberbegriff – sehen sich regelmĂ€ĂŸig mit Infragestellungen und Kritik konfrontiert, sowohl innerhalb der Wissenschaft als auch aus konservativen und insbesondere rechtspopulistischen Kreisen. Diese besondere Situation unterscheidet das Fach von vielen anderen Disziplinen und macht es leider notwendig, die Bedeutung und Relevanz der Geschlechterforschung immer wieder klar darzulegen.

Die interdisziplinĂ€re Geschlechterforschung untersucht, wie Geschlecht gesellschaftlich organisiert, erlebt und wirksam wird. Sie fragt, wie GeschlechterverhĂ€ltnisse entstehen, wie sie sich verĂ€ndern – und wie sie mit Macht, Arbeit, Körper, Sprache, Recht oder Gesundheit verknĂŒpft sind.

UrsprĂŒnglich entwickelte sich die Geschlechterforschung aus der Frauenforschung, die darauf aufmerksam machte, dass Frauen und ihre LebensrealitĂ€ten in vielen Wissenschaften lange ignoriert oder verzerrt dargestellt wurden. Ziel war es, diese WissenslĂŒcken zu schließen und wissenschaftliche Perspektiven zu korrigieren. SpĂ€ter kamen weitere Forschungsbereiche hinzu – etwa die MĂ€nnlichkeitsforschung, die zeigt: Auch MĂ€nner haben ein Geschlecht – und machen geschlechtsspezifische Erfahrungen. Heute arbeitet die Geschlechterforschung unter einem intersektionalen, vielfaltsbewussten und machtkritischen Ansatz. Zentrale Impulse kommen auch aus der Queer- und LGBTQI-Forschung, die zeigt: Geschlecht ist nicht losgelöst von SexualitĂ€t, Begehren, Normen und IdentitĂ€t zu denken – insbesondere, weil der gesellschaftliche Alltag stark von der Vorstellung eines zweigeschlechtlich-heterosexuellen Modell geprĂ€gt ist.

Die Geschlechterforschung beleuchtet etwa den Gender Pay Gap (LohnlĂŒcke), den Gender Care Gap (ungleiche Verteilung von Sorgearbeit), den Gender Pension Gap (Risiko weiblicher Altersarmut), oder den Gender Data Gap, also die geschlechterungleiche Erhebung und Auswertung von Daten in Medizin, Technik oder Wirtschaft.

DarĂŒber hinaus analysiert sie, wie Geschlecht den Alltag strukturiert – z. B. bei Toiletten, in der Architektur, in der Schule oder auf dem Arbeitsmarkt, in Partien oder in der Stadtplanung. Auch die kulturell-symbolischen Differenzierungs- und Kategorisierungsprozesse sowie die Bewertung von Geschlechtszuschreibungen („mĂ€nnlich“, „weiblich“, „trans“, „nicht-binĂ€r“) stehen im Fokus. Ebenso beschĂ€ftigt sich Geschlechterforschung damit, welche Rolle Geschlecht fĂŒr die IdentitĂ€t und die Selbstwahrnehmung von Individuen spielt, wie Geschlechterbilder unsere körperlich-leibliche (Selbst-)Wahrnehmung beeinflussen (geschlechtlicher Habitus) und welche Transformationen und KontinuitĂ€ten dabei im VerhĂ€ltnis zu gesellschaftlichen Entwicklungen zu beobachten sind. „Daher betreffen GeschlechterverhĂ€ltnisse – wenn auch in unterschiedlichem Maße und in unterschiedlicher AusprĂ€gung – alle Wissenschaftsdisziplinen.“ (Wissenschaftsrat 2023: 24)

In Göttingen ist die Geschlechterforschung an der Sozialwissenschaftlichen FakultÀt angesiedelt. Neben grundstÀndiger Lehre aus der sozialwissenschaftlichen Geschlechterforschung bezieht der Studiengang interdisziplinÀre Lehre aus anderen FÀchern und FakultÀten.

Wie andere Disziplinen konzentriert sich die Geschlechterforschung auf einen spezifischen Wissensbereich. Sie verfĂŒgt ĂŒber eigene Theorien, Methoden, Fachdebatten, Publikationsorgane, StudiengĂ€nge, wissenschaftliche Gesellschaften und internationale Konferenzen. Auch institutionell ist sie fest verankert – an UniversitĂ€ten, in LehrstĂŒhlen, Forschungsinstituten und Curricula.

Trotzdem wird ihr gelegentlich die Wissenschaftlichkeit abgesprochen – sei es mit dem Vorwurf, sie sei ideologisch, unwissenschaftlich oder „nicht objektiv“. Solche Kritik betrifft jedoch keineswegs nur die Geschlechterforschung. Auch andere Forschungsfelder wie Demokratieforschung, Klima- und Migrationsforschung oder die Theologie mĂŒssten sich Ă€hnliche Fragen gefallen lassen, wenn man die Wissenschaftlichkeit allein an vermeintlicher „ObjektivitĂ€t“ oder „NĂŒtzlichkeit“ misst.
TatsĂ€chlich zeigen sich bei genauerer Betrachtung: Die Grenzen dessen, was als Wissenschaft gilt, sind nie absolut festgelegt, sondern unterliegen historischen, institutionellen und politischen Aushandlungsprozessen. StudiengĂ€nge heißen an verschiedenen UniversitĂ€ten unterschiedlich, manche FĂ€cher werden zusammengelegt, andere ganz abgeschafft – das zeigt: Wissenschaft ist kein starres System, sondern ein dynamisches Feld.

Geschlechterforschung ist eine wissenschaftliche Disziplin, die gesellschaftliche PhÀnomene wie GeschlechterverhÀltnisse, Ungleichheiten und die Prozesse von Geschlechterunterscheidungen untersucht. Sie fragt: Wie entstehen Geschlechterdifferenzen? Wie wirken sie in Politik, Arbeit, Gesundheit, Bildung und im alltÀglichen Miteinander von Menschen? Und wie hÀngen sie mit MachtverhÀltnissen zusammen?

Gleichstellungspolitik hingegen verfolgt praktische Maßnahmen, um bestehende Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern zu verringern – z. B. beim Lohn, in der Gesundheitsversorgung oder bei der beruflichen Teilhabe. Zwar gibt es inhaltliche Schnittmengen und eine sinnvolle Zusammenarbeit, doch die Ziele und Logiken beider Bereiche unterscheiden sich grundlegend. Gleichzeitig kann die Gleichstellungsarbeit (an UniversitĂ€ten, in Kommunen etc.) ein potentielles Arbeitsfeld fĂŒr Absolvent*innen des Studiums der Geschlechterforschung darstellen.

Dass Geschlechterforschung gesellschaftlich und politisch diskutiert wird, ist kein Zeichen mangelnder Wissenschaftlichkeit – im Gegenteil: Wo Wissenschaft gesellschaftliche PhĂ€nomene analysiert, steht sie auch im Zentrum gesellschaftlicher und politischer Debatten. Das gilt ebenso fĂŒr andere Disziplinen wie Politikwissenschaft, Demokratieforschung oder Soziologie, die sich mit MachtverhĂ€ltnissen und sozialer Ordnung befassen. Auch in Natur- und Lebenswissenschaften, etwa in der Klimaforschung oder Immunologie, sind Erkenntnisse nie völlig „neutral“, sondern haben enorme gesellschaftliche und ethische Relevanz. Kurzum: „Ein emanzipatorisch-aufklĂ€rerisches Ziel zu verfolgen, steht nicht im Widerspruch zum Status als Wissenschaft.“ (Wissenschaftsrat 2023: 8)

Oft entsteht der Eindruck, dass Geschlechterforschung etwas sei, das „alle“ können. Das liegt vermutlich daran, dass jede*r ĂŒber Alltagswissen ĂŒber Geschlecht verfĂŒgt: Wir wachsen mit bestimmten Vorstellungen von „Mann“ und „Frau“ auf, wir identifizieren uns selbst geschlechtlich oder beobachten die GeschlechterverhĂ€ltnisse in unserer Umgebung.

Doch Geschlechterforschung ist mehr als die persönliche Erfahrung von Geschlecht oder die FĂ€higkeit, MĂ€nner und Frauen zu zĂ€hlen. Sie untersucht Geschlecht als gesellschaftliches und historisch gewachsenes Ordnungsprinzip – und fragt kritisch, wie GeschlechterverhĂ€ltnisse entstehen, sich verĂ€ndern und welche MachtverhĂ€ltnisse damit verbunden sind.

Ebenso wenig wie es reicht, etwas rechnen zu können, um Mathematiker*in zu sein, oder das politische System zu kennen, um Politikwissenschaftler*in zu sein, reicht es aus, ein AlltagsverstÀndnis von Geschlecht zu haben, um Geschlechterforscher*in zu sein. Wissenschaftliche Geschlechterforschung erfordert theoretisches Wissen, methodische Kompetenzen und die Bereitschaft, vermeintliche SelbstverstÀndlichkeiten zu hinterfragen.

Denn Geschlechterforschung ist wissenschaftlich relevant, gesellschaftlich notwendig und strategisch zukunftsweisend.

UniversitĂ€ten stehen im Wettbewerb um die klĂŒgsten Köpfe – bei Studierenden ebenso wie bei Forschenden. Die Möglichkeit, sich mit Geschlechterfragen wissenschaftlich auseinanderzusetzen, ist fĂŒr viele ein starkes Argument bei der Studien- oder Berufswahl. Geschlechterforschung ist dabei ein Alleinstellungsmerkmal, das die Sichtbarkeit und AttraktivitĂ€t einer Hochschule erhöht.

Gleichzeitig ist Geschlecht ein zentrales Querschnittsthema in nahezu allen Disziplinen – von Technik ĂŒber Medizin bis zur Soziologie. Es spielt eine Rolle in aktuellen Debatten ĂŒber gesellschaftlichen Zusammenhalt, politischen Extremismus, KĂŒnstlicher Intelligenz, Digitalisierung, Arbeitsorganisation, psychische Gesundheit oder medizinischer Versorgung. Forschung, die den Anspruch hat, diese Entwicklungen zu verstehen und mitzugestalten, kann auf Geschlechterperspektiven nicht verzichten.

Auch aus forschungspolitischer Sicht ist Geschlechterforschung etabliert und gefordert: Nationale und internationale Drittmittelgeber fördern seit Jahren geschlechtersensible Forschung. Das Bundesministerium fĂŒr Bildung und Forschung (BMBF) und viele BundeslĂ€nder – wie z. B. Niedersachsen – haben gezielt Förderprogramme aufgelegt. In Niedersachsen wurden etwa ZentrumsgrĂŒndungen unterstĂŒtzt, das Maria-Goeppert-Mayer-Programm, u.A. zur Förderung von (Gast)Professuren aufgelegt, die GeschĂ€ftsstelle der Landesarbeitsgemeinschaft der Einrichtungen fĂŒr Frauen- und Geschlechterforschung Niedersachsen (LAGEN) finanziert und große Verbundprojekte wie „Geschlecht – Macht – Wissen“ gefördert.

Kurz gesagt: Eine UniversitĂ€t, die Zukunftsthemen ernst nimmt, braucht die Geschlechterforschung – nicht als „Add-on“, sondern als integralen Bestandteil wissenschaftlicher Exzellenz und gesellschaftlicher Verantwortung.

  • Wissenschaftsrat (2023):
  • Many Shades of Gender – Ein FAQ zu den Gender Studies (2019), LMU MĂŒnchen,
  • Wozu eigentlich noch Gender Studies?, Sabine Grenz 2019, UniversitĂ€t Wien,
  • Exzellent ohne Gender Studies in MINT?, Forschung & Lehre 2023,